Vor ein paar Tagen erreichte uns eine E‑Mail, die uns sehr berührt hat und die wir mit wohlwollendem Einverständnis veröffentlichen durften.
Mathias Dolecek, ein ehemaliger Student aus Trier, gab uns ein sehr ausführliches und offenes Feedback über ein Leben mit seelischen Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft. Er fordert einen selbstverständlicheren Umgang mit den psychischen Erkrankungen vs. somatischen Erkrankungen.
Seine Worte brechen Tabus und rütteln auf. Aber schauen Sie selbst:
„Liebe Vereinsmitglieder,
durch Zufall bin ich auf Ihre Internetseite gestoßen und ich möchte nur sagen, dass es irre ist, wahnsinnig toll, dass es sie jetzt gibt. Als ich in den 90er Jahren in Trier studiert habe, gab es sie noch nicht, ich war damals also schon erwachsenes Kind psychisch kranker Eltern und viele Psychotherapeuten waren (und sind) auf diesem Gebiet ungeschult, ich hatte bei drei Therapeuten Hilfe gesucht, keiner hat mich verstanden. Überhaupt gibt es auch heute in ländlichen Gebieten meist gar keine entsprechende Hilfe für Kinder, das ist noch immer erschreckend, wie Kinder auf dem Land sich selbst überlassen sind. Drum freut es mich ganz ausgesprochen, dass es in der recht kleinen Stadt Trier jetzt schon so ein tolles Projekt für Kinder psychisch kranker Eltern gibt! Weiter so!
Als inzwischen erwachsenes Kind psychisch kranker Eltern macht es mich traurig und auch oft wütend, dass trotz vieler Bemühungen an Öffentlichkeitsarbeit durch Hilfsorganisationen wie AURYN oder durch Experten auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychologie der Großteil unserer Gesellschaft psychische Krankheiten noch immer nicht aufgeklärt und gleichwertig wie jede andere Krankheit sieht. Mein Augenmerk liegt dabei auf dem Fakt, dass die meisten Menschen noch immer nicht in der Lage sind, bei psychischen Krankheiten feine Abstufungen und Nuancen erkennen zu können und leichtere psychische Krankheiten gar nicht als Krankheiten anerkennen wollen. Dabei gibt es eben auch hier genauso leicht Formen und Mischformen, die aber ganz genauso eine Krankheit sind.
Bei den üblichen körperlichen Krankheiten gibt es meistens volles Verständnis in der Gesellschaft für viele verschiedene Varianten. So kann man beispielsweise dem Arbeitgeber sagen „ich habe in der Regel nur sehr leichten Heuschnupfen, aber diese Woche ist es stärker ausgebrochen als sonst, mein Arzt hat mich eine Woche krank geschrieben.“ Man vergleiche das mit einer psychischen Krankheit: könnte eine Mutter zu einer Kindergärtnerin sagen „ich habe normal nur eine sehr leichte Form der psychischen Krankheit PTBS aber diese Woche geht es mir gar nicht gut, mein Kind muss also diese Woche nachmittags immer zu…“.
Oder könnte man auf diese Weise in der eigenen Verwandtschaft um Hilfe fragen, wenn die Verwandtschaft nicht schon jedes Detail der Krankheit wüsste, ginge das? Selten, da hieße es gleich „wie?“, „was?“ und „warum?“. Ich höre meistens nur Einschätzungen in meiner Verwandtschaft, dass man glaubt, entweder ist man so sehr psychisch krank, dass man in intensive stationäre oder ambulante Therapie muss, oder man hat nur „eine schwierige Zeit“, die aber sicher nach ein oder zwei Jahren ganz vorüber ist.
Warum können sich viele Menschen nicht klar machen, dass psychische Krankheiten auch leichte Formen in verschiedenen Varianten haben können und genau so beachtet werden müssen mit einer ganz normalen Unterstützungsbereitschaft der Mitmenschen, etwa wie bei einem Allergiker? Ich habe gewisse Verwandte mehrmals über die Krankheit meiner Freundin aufgeklärt, es hat nichts geholfen. Die falschen Bilder darüber, dass unsere Psyche/Stimmung eigentlich fast nur von unserem Willen und Charakter gesteuert sei, bleiben wie festgenagelt in den Köpfen der Menschen. Nach zwei Monaten heißt es wieder „was macht die Freundin denn so, ihr müsste es doch eigentlich jetzt sehr gut gehen“. Einfach so. Frische Luft scheint wohl psychische Krankheiten weg zu zaubern. Würde man das auch bei körperlichen Krankheiten so sagen, wenn sie bekanntermaßen nicht schnell therapierbar sind?
Nicht besser sieht es bei den Krankenkassen und allen anderen verantwortlichen Finanzierern von Therapien aus: leichtere Formen von psychischen Krankheiten existieren nicht im Sinne von Behandlungsbedürftigkeit. Stellen Sie sich vor, die Krankenkassen würden sagen „kleine Knochenbrüche der Hand und andere leichte Verletzungen dürfen weder im Krankenhaus noch beim Hausarzt behandelt werden, nur schwere Verletzungen“. So ist es aber bei den psychischen Krankheiten: wo bekommt eine Mutter sofort Hilfe, wenn sie eine leichte Verschlechterung ihrer ohnehin leichten oder mittleren psychischen Krankheit hat?
Oder eben die Kinder psychisch eher leicht kranker Eltern… es ist noch ein weiter Weg zu gehen, bis auch kleine Hilfsangebote in diesen Bereichen selbstverständlich (!) werden. Es ist noch ein weiter Weg, bis endlich in den Köpfen der Mitmenschen Sätze wie „ach so verrückt ist die doch nicht“ oder „die will nur nicht“ verschwinden, bis Varianten und leichtere Verschlechterungen bei psychischen Krankheiten ganz normal wahrgenommen werden und auch dafür Hilfe angeboten wird und somit Schaden von unschuldigen Kindern genommen wird.
Mit lieben Grüßen und Respekt für die viele Arbeit, ein ehemaliger Student“
Mathias Dolecek
Wir bedanken uns sehr für diese bestärkenden Worte und wünschen Herrn Dolecek für seine Zukunft alles Gute.