Ich habe erlebt, wie eine eine psychische Erkrankung eine Familie zerstören kann — wenn keiner hilft. Denn an der Erkrankung leidet nicht nur der psychisch kranke Mensch selbst, sondern auch seine Angehörigen und vor allem seine Kinder.
Seit ich mit 19 (vor 11 Jahren) den Kontakt zur Familie abgebrochen und nach Trier gegangen bin, habe ich intensiv daran gearbeitet, das Geschehene überhaupt erstmal (in Worte) fassen zu können und dann zu verstehen, was es mit mir gemacht hat und wie es mich noch heute prägt. Und ganz aktuell bin ich dabei, endlich mit der Macht dieser Vergangenheit über mich ab- und hoffentlich Frieden zu schließen. Innerhalb dieses wichtigen Prozesses habe ich beschlossen, hier öffentlich über meine Erfahrungen zu berichten, um so das unaussprechliche und fast schon unwirkliche Erleben ein Stück weiter in der Realität zu verankern.
Es könnte sein, dass einige Stellen meines Berichts sehr unlogisch oder gar wirr kingen. Genau diese Verwirrung machte aber eben die Krankheit meiner Mutter aus.
Ich möchte mit meinem Bericht aufzeigen, wie belastend die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern sein kann, wenn sie keine Hilfe erhalten und allein der Krankheit ihrer Eltern ausgesetzt sind. Ich möchte ihr Erleben versteh- und erlebbar machen und auch anderen betroffenen Kindern Mut zusprechen: es gibt einen Ausweg und man kann trotzdem seinen Weg gehen!
Aber hier nun meine Geschichte:
Ich bin als Einzelkind bei meiner alleinerziehenden Mutter in Ostdeutschland aufgewachsen. Mein Vater hat ca. ein halbes Jahr nach meiner Geburt 1982 die Familie wieder verlassen. Er verschwand komplett von der Bildfläche, Unterhalt hat er nie bezahlt. Bis vor wenigen Wochen habe ich nie Kontakt mit ihm gehabt. Erzählt hat meine Mutter mir über die Zeit damals nie, deshalb kann ich leider nur vermuten, was damals passiert ist. Ich habe aber vor kurzem von einem Bekannten der Familie erfahren, dass meine Mutter auf ihn bereits damals einen depressiven Eindruck gemacht hat, ebenso wie ihr Vater (mein Großvater).
Nach der Scheidung stand meine Mutter dann ganz allein mit mir da. Dabei hatte sie anscheinend sehr große Hoffnungen und Erwartungen an die Ehe und die neue eigene Familie geknüpft. Mein Vater und ihr Kind sollten sie endlich glücklich machen. Aber es ging alles schief: erstmal wurde das Kind nicht der gewünschte Junge (das hat sie mir häufig gesagt) und dann ließ ihr Mann sie einfach sitzen. Was blieb war nur noch ein von ihr abhängiges kleines Wesen, für das sie ihre Bedürfnisse hinten anstellen musste. Und damit war sie wohl komplett überfordert. Sie nahm meine natürlichen Bedürfnisse als Baby als belastende Ansprüche wahr, denen sie nicht gewachsen war. Es half auch nicht, dass ich sie wohl sehr an meinen Vater erinnerte, was sie kaum ertragen konnte. Hinzu kommt, das nach meinen wenigen Informationen die Familie ihr auch kaum geholfen hat. Wie damals in der DDR üblich, gab sie mich dann aber zum Glück schon früh (ich schätze so Ende des ersten Lebensjahres) in die Krippe. Das nur zu den Rahmenbedingungen. Viel mehr kann ich dazu nicht sagen.
Ich habe allgemein nur sehr wenige Bilder zu meiner Kindheit im Kopf. Meine frühesten Erinnerungen beginnen als ca. 5jährige. Ich sehe mich im Kindergarten. Von Weitem erkenne ich meine Mutter, die gekommen ist um mich abzuholen. Noch heute sind mir meine Gefühle in dieser Situation sehr präsent: sobald ich sie erblicke, fühle ich mich plötzlich total extrem angespannt, vor Angst wie erstarrt. Und dann steht sie vor mir, und schaut mich an mit einem abwertenden Blick, den ich so fürchte weil er aufgeladen ist mit jeder Menge vernichtender Botschaften. Erst heute bin ich mir über deren ganzes Ausmaß so richtig im Klaren.
Mit ihrem Blick durchleuchtete sie mich innerhalb von Sekunden und es war sicher, dass sie wie immer etwas finden würde, was an mir falsch war. Das konnte alles sein. So rügte sie mich beispielsweise dafür, dass mein Lachen hässlich aussehe oder dumm klinge. Allgemein waren ihr alle Zeichen von Lebendigkeit zu viel – ich kann mich nicht erinnern, dass ich in ihrer Gegenwart mal unbekümmert oder überhaupt Kind sein durfte.
Ich liste hier stichpunktartig die Grundbotschaften meiner Mutter an mich auf (eigentlich sind es eher Botschaften über sie selbst, aber sie kamen als Anschuldigungen bei mir an). So trat sie eigentlich von Beginn meiner Erinnerung an mit mir in Kontakt. Als ich kleiner war, waren die Botschaften eher non-verbal, später sprach sie viele dieser Dinge auch wörtlich so aus. Andere habe ich in der Therapie mühsam herausgearbeitet, sie stehen eher für ihre Grundhaltung mir und dem Leben gegenüber:
- „Du siehst deinem Vater so ähnlich und daran will ich nicht erinnert werden. Ich finde dich so hässlich/dumm/anstrengend/…, warum kannst du denn nicht ein hübscheres/schlaueres/einfacheres/… Kind sein?! Dich kann man einfach nicht lieben.“ Ich habe sie prinzipiell als enttäuscht über mich erlebt. Es ging soweit, dass sie mich als abstoßend und ekelhaft bezeichnete.
- „Ich empfinde dich als enorme Belastung. Ich bin total erschöpft. Du kannst nun wirklich nicht von mir verlangen, mich auch noch mit so einem anstrengenden Kind wie dir auseinanderzusetzen. Ständig machst du mir nur Ärger.“ Ärger bedeutete für sie z.B. schon das oben erwähnte zu laute oder hässliche Lachen.
- Achtung, die nächste Botschaft ist sehr abstrus: „Merkst du nicht, wie die Leute schon alle auf uns schauen. Die haben doch längst gemerkt, was für ein schlechtes Kind ich habe. Die sind ohnehin nur darauf aus, meine Schwächen aufzudecken und mich bloßzustellen. Wenn das passiert ist alles aus, dann kann ich nicht mehr weiterleben. Und du bist dabei ein unkontrolliertes Risiko. Wenn du schon nicht normal sein kannst, dann benimm dich gefälligst wenigstens unauffällig, sag bloß nichts und ziehe ja keine wie auch immer geartete Aufmerksamkeit auf dich. Wir können nur darauf hoffen, dass die Leute uns wenigstens übersehen und uns in Ruhe lassen.“ Man könnte meinen es handele sich um Belanglosigkeiten, aber für meine Mutter war das bitterer Ernst. Und damit als kleines Kind auch für mich. Diese Botschaft deutet schon deutlich auf ihre psychische Erkrankung hin. Zu dieser komme komme ich gleich noch.
- „Ich bin mit meinem Leben überfordert, ich halte das einfach nicht mehr aus. Ich habe doch ein Kind bekommen, damit ich glücklich bin. Damit bist du doch dafür verantwortlich, dass es mir gut geht. Mach doch endlich mal was!“ und im gleichen Atemzug: „Du kannst ja doch nichts. Alles was du machst kann nur falsch sein, weil du schon grundsätzlich falsch bist.“ Das ist definitiv die Nummer 1 der Botschaften. Die beiden Aussagen schließen sich ja eigentlich gegenseitig aus. Damit hatte ich einen Grundkonflikt, der total unlösbar war. Ich bin darüber mehr und mehr verzweifelt, weil er ja gar keinen Sinn ergibt und weil es daraus keinen Ausweg gibt. Daran leide ich noch heute.
Ich wusste dass mich all das erwartete, als ich meine Mutter im Kindergarten schon von Weitem sah. Daher mein oben beschriebener Dauerzustand aus Angst und Anspannung. In diesem ver-rückten Rahmen hatte ich kaum Raum, mich selbst zu entdecken und mich normal zu entwickeln. Es erschreckt mich heute zutiefst, dass ich mich beim besten Willen nicht erinnern kann, mal mal mit meiner Mutter Spaß gehabt zu haben. Stattdessen herrschte eine Atmosphäre der Furcht und Traurigkeit und ich stand ständig unter ernormem Stress. Denn wie oben erwähnt hatte ich gelernt, dass jeden Moment „alles aus“ sein konnte. Was genau das sein sollte wusste ich auch nicht, eben das Schlimmstmögliche. Ich spürte einen ständigen Druck, etwas leisten zu müssen, das aber eigentlich gar nicht zu können.
Das war eigentlich viel zu viel.
Ich hatte aber leider sehr früh und sehr gut gelernt, nach außen hin bloß nicht aufzufallen und um jeden Preis alles gut zu machen. Denn jede Art von Auffallen wurde von meiner Mutter sofort bestraft. So vermied ich es immer mehr, irgendetwas von mir zu zeigen. Und zwar weder ihr noch anderen, da ich ja keine andere Reaktion kannte.
Auf die beiden Themen „Nur nicht auffallen“ und „Falsch sein“ werde ich im Folgenden immer wieder eingehen. Sie waren die Hauptsorgen, um die bei meiner Mutter alles kreiste und verantwortlich für die meisten Probleme bei uns Zuhause.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es so etwas gibt wie „positiv auffallen“. So arbeitete ich z.B. immer daran, gut in der Schule zu sein. Aber nicht weil ich erwartete, dass meine Mutter stolz auf mich sein würde. Das kannte ich gar nicht. Es ging nur darum, ihr keinen Ärger zu machen. Als ich dann am Ende der Grundschule vor der Klasse als eine der besten Schülerinnen geehrt wurde, löste diese Art von „Aufmerksamkeit-auf-mich-ziehen“ panische Angst in mir aus. Ich wollte die Situation einfach nur vermeiden.
Wie gesagt, ich war gut darin, unauffällig zu sein. Zu gut aus heutiger Sicht. Denn so wurde niemand auf meine innere Not aufmerksam. Meine Lehrer beschrieben mich als braves, vielleicht etwas stilles Kind. Viel mehr gab es nicht zu sagen. Und da meine Mutter ebenfalls lange Zeit erfolgreich ihre ganze Kraft in das Aufrechterhalten des „schönen Scheins“ steckte, kam mir niemand zu Hilfe.
Ich würde sagen bis zur Pubertät war mir auch selbst nicht bewusst, dass etwas nicht stimmte. Aber dann ab dem 11. Lebensjahr spürte ich schon sehr deutlich, dass etwas grundlegend schief lief.
Nur hatte ich keine Worte dafür, dazu war das alles zu konfus und unfassbar. Und durch ihre dauernden demütigenden Botschaften hatte meine Mutter mir schon früh die Stimme genommen. Alles was ich sagte war ja falsch, da hatte ich irgendwann aufgegeben, zu sprechen. Ich war verstummt und zog mich auch immer mehr in mich zurück.
Ich war zutiefst verunsichert und verwirrt. Das was mich jahrelang verwirrte als etwas, das grundlegend schief lief, ohne dabei greifbar zu sein, das war die psychische Erkrankung meiner Mutter.
Diese entfaltete sich vollends, als ich im Teenager-Alter war. Ich habe zwar keine chronologische Erinnerung an die traumatischen Ereignisse während dieser Zeit, aber ich weiß von konkreten Diagnosen, die ich teilweise heimlich von Rezepten ablas. Denn erklärt hat mir damals niemand, was los war.
Was weiß ich über die äußere Situation? Meine Mutter war also ab 1983 mit mir allein, und hatte auch keinen neuen Partner. Sie hatte Arbeit und trug dabei einigermaßen erfolgreich ihre Schönwetter-Maske. Grundsätzliche Probleme waren damals schon da, aber nach dem Fall der Mauer wurde es dann offensichtlich und richtig schlimm. Bis dahin war sie wohl auch schon depressiv. Aber zu DDR-Zeiten musste sie sich — das würde ich in diesem Fall wirklich so formulieren — einfach nur in die autoritäre Staatsstruktur einpassen. Der Lebensweg war für sie genau vorgegeben. Heute fällt mir auf, wie gut die äußeren Bedingungen der DDR mit den inneren Überzeugungen meiner Mutter zusammenpassten: es galt, sich in die große gesichtslose Masse des Volkes einzufügen, bloß keine eigene (= „abweichende“) Meinung zu haben. Und man konnte sich darauf verlassen, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung „zugeteilt“ zu bekommen. Eine höhere Instanz sorgte schon für das eigene Überleben. Vielleicht war es auch so, dass diese Rahmenbedingungen überhaupt erst zu den inneren Überzeugungen meiner Mutter geführt haben. Oder dass sie diese Prinzipien zumindest viel zu tief verinnerlicht hatte (sie kannte ja Zeit ihres Lebens nichts anderes), anstelle eines Selbstbewusstseins, einer Ich-Stärke. Diese zu entwickeln, dazu hatte sie wohl keine Gelegenheit.
Jedenfalls müssen die Wende und die plötzliche neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ein Riesenschock für sie gewesen sein. Alles was ihr bis dahin Sicherheit gegeben hatte, brach mit einem Mal komplett weg. Viele andere hatten damit ebenfalls zu kämpfen, nur hatten sie genug innere Ressourcen, um einen Umgang damit zu finden. Meine Mutter aber kam mit ihrem Leben nicht mehr zurecht und es ging ihr zusehends schlechter. Ich denke, dass die Ereignisse 1989/90 auch ein Teil der Erklärung sind, warum sich ihre schon immer vorhandene unterschwellige Traurigkeit gepaart mit mangelndem Selbstvertrauen und Überforderung sich zu einer ausgewachsenen, chronischen psychischen Krise entwickelte, auf deren Höhepunkt sie für mehrere Wochen in’s Krankenhaus verschwand und mich als 15jährige mit etwas Geld schließlich nicht nur emotional sondern auch physisch mir selbst überließ.
Ich habe leider nur noch bruchstückhafte Erinnerungen, aber hier sind die Ereignisse, die mir noch im Gedächtnis sind, wenn auch nicht chronologisch:
- Meine Mutter weinte sich über lange Zeit fast täglich in den Schlaf und sagte mir ständig, wie sie das alles einfach nicht mehr schaffen würde, und wie enttäuscht sie von mir sei, weil ich alles nur noch schlimmer für sie machen würde.
- Diese ständige Rückmeldung, so eine Enttäuschung und Belastung zu sein, konnte ich irgendwann einfach nicht mehr aushalten. Ich zog mich so tief in mich zurück, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, gar nicht mehr da zu sein. Im Alter von 12 Jahren brach ich den Kontakt zur restlichen Familie ab, weil ich es nicht mehr etragen konnte, wie meine Mutter sich vor ihnen für mich schämte (das sagte sie mir auch oft). Die Beziehung meiner Mutter zu ihren Eltern war sehr unterkühlt und meine Großmutter war auch immer sehr abwertend meiner Mutter und mir gegenüber. Jedenfalls meldete sich nicht einmal ein Familienmitglied (es gab meine Großeltern, eine Großtante und die Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie), um zu fragen ob bei mir alles in Ordnung war. Jahrelang gab ich mir die Schuld für mein Alleinsein und übernahm die Einschätzung meiner Mutter, dass ich ein unzumutbares Problemkind sei etc. Erst heute weiß ich, dass es nicht normal ist, dass eine Familie einfach wegschaut, wenn ein 12jähriges Kind sich plötzlich so komplett isoliert.
- Meine Mutter bekam auf Arbeit immer mehr Probleme (ursprünglich war sie technische Zeichnerin, arbeitete dann als Sachbearbeiterin im Kundendienst und landete schließlich an der Rezeption). Und am Ende verlor sie dann im Alter von 47 Jahren ihre Arbeit, weil sie dabei erwischt wurde, wie sie 70 DM aus der Kaffeekasse entwendete. Das war ca. 1999/2000, als ich so 16/17 Jahre alt war. Ihre Chefin brachte sie nach diesem Vorfall nach Hause, denn sie war wie ein kleines Kind und überhaupt nicht mehr ansprechbar. Obwohl die Chefin doch sehen musste, dass bei uns alles schief lief, verabschiedete sie sich ohne weiter nachzufragen einfach wieder. Ein Hilfsangebot an mich gab es nicht. Meine Mutter fand danach nie wieder einen Job und wir hatten noch weniger Geld als ohnehin schon.
- Meine Mutter sagte mir, sie wünschte sich ich wäre nie geboren und äußerte auch häufig den Wunsch bzw. drohte sie mir, sie wolle sich umbringen und mich mitnehmen.
- Ich durfte irgendwann nicht mehr an’s Telefon gehen, mit der Begründung, dass wir abgehört würden. Oder ich wurde harsch angeblafft, wenn ich das Licht anmachte in der Küche, wo sie mit ihrem Bier und ihrer Zigarette apathisch in’s Leere starrte – auch hier ging es um Überwachung von draußen / erwischt werden…
- Sie war schließlich irgendwann auch in psychiatrischer Behandlung und hatte folgende wechselnde Diagnosen: generalisierte Angststörung, Depression, soziale Phobie, manisch-depressiv (= bipolar), Schizophrenie. Sie war zwar wiegesagt 6 Wochen stationär in Behandlung, machte aber dann nie eine Therapie. Stattdessen wurde sie über längere Zeit mit Zyprexa (einem Tranquilizer) ruhig gestellt und nahm auch danach regelmäßig Medikamente. Damit war das Problem für sie gelöst. Ihre Haltung mir gegenüber änderte das aber nicht. Nach mir gefragt oder mit mir gesprochen hat keiner der behandelnden Ärzte. Was genau sie hatte und wo die Ursachen liegen werde ich wohl nie erfahren.
Es war klar, dass da etwas ganz grundlegend nicht stimmte. Sicherlich war es damals noch eine andere Zeit und in den letzten 10–15 Jahren hat sich viel getan. Ich weiß nicht, ob es heute anders laufen würde, aber damals jedenfalls sprach keiner das Problem aus. Die Familie und die Nachbarn guckten weg. Ich suchte als Teenager mit letzter Kraft wieder und wieder das Gespräch mit meiner Mutter, da ich aber statt Antworten nur Zurückweisungen und Anschuldigungen bekam, entwickelte ich eine enorme Wut, ja einen Hass auf sie. Ich lehnte sie genauso grundlegend ab, wie sie es mit mir tat. Jahrelang gab es jeden Abend den gleichen Streit, in dem ich meine Mutter dazu bringen wollte, endlich anzuerkennen, dass alles schiefläuft. Sie sollte endlich Verantwortung übernehmen und etwas tun. Oft brach ich dann angesichts ihrer abweisenden und verleugnenden Reaktion aus Verzweiflung in Tränen aus. Dafür wurde ich von ihr nur verächtlich ausgelacht.
Irgendwann wurde ich darüber selbst sehr depressiv, hatte kaum Kontakte bzw. brach Freundschaften zu Mitschülern ab, weil ich befürchtete, auch von ihnen als „falsch“ erkannt und „ausgestoßen“ zu werden… Wir hatten auch keine anderen Kontakte, so dass das meine einzige Erfahrung war. Ich konnte es mir gar nicht anders vorstellen. Es gab keine Oma oder Tante oder nette Lehrerin, die meine Not erkannt und mich aufgefangen hätte.
So war meine Kindheit: Neben dem Rückzug in mich selbst (um nur nicht mehr diese belastenden Gefühle spüren zu müssen), dem Verstummen nach außen hin (aus tiefer Verunsicherung) und der Aggression meiner Mutter gegenüber (aus Verzweiflung und als letzte Kraft, die ich noch hatte) entwickelte ich irgendwann die feste Überzeugung, dass ich besser dran wäre ohne andere Menschen in meinem Leben. Ich glaubte wohl auch, ich hätte Anerkennung oder gar Liebe von anderen nicht verdient.
Ich bin überzeugt, dass diese Haltung für mich damals überlebensnotwendig war, um nicht im Kontakt mit meiner Mutter unterzugehen. Es war meine einzige Chance, um mich abzugrenzen. Auch wenn das bedeutete, mich von allen anderen gleich mit loszusagen. Heute allerdings ist diese Grundüberzeugung natürlich total hinderlich und einfach sehr ungesund und ich kämpfe täglich damit, mich immer wieder auf’s Neue darüber hinwegzusetzen.
Ich war also total isoliert, lag irgendwann das ganze Wochenende nur noch im Bett und lebte nur dafür, die geforderte Leistung in der Schule zu erbringen. Das war neben der Wut auf meine Mutter alles was ich noch hatte. Ich musste das Abitur schaffen, um da raus zu kommen. Aus heutiger Sicht hätte ich viel lieber für mich selbst gelernt, aber so tat ich das alles unter enormer Überlastung und habe kaum etwas von dem Wissen für mich mitnehmen können…Was man unter Angst und Stress lernt, behält man kaum.
Aber ich habe es tatsächlich geschafft. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie ich das gemacht habe, und auch noch gut. Und trotz der andauernden Beschwerde meiner Mutter, ich würde ihr über 16 hinaus unverschämterweise immer noch auf der Tasche liegen, bei gleichzeitiger Aussage, dass heutzutage ohne Abitur gar nichts mehr geht…Noch so ein Widerspruch.
Bei der Zeugnisübergabe, in einem großen Festsaal, wo alle Eltern sich stolz versammelt hatten um ihre Schützlinge zu beklatschen, brach ich dann aber fast zusammen. Ich hatte meiner Mutter im Vorfeld aggressiv zu verstehen gegeben, dass ich sie bei diesem wichtigen Ereignis nicht dabeihaben wollte (was sie sang- und klanglos akzeptierte). Lieber wollte ich an diesem Tag allein sein als sie (wie damals im Kindergarten) mit ihrem abwertenden Blick zwischen den anderen Eltern stehen und mich erneut demütigen zu sehen. In der Situation selbst war es dann aber so, dass ich bei allen Zuschauern diesen Blick auf mich wahrnahm. Es überkam mich ein heftiges Gefühlsgemisch aus Scham und Angst. Ich ließ mir davon nichts anmerken (das hatte ich wie gesagt leider viel zu gut gelernt), schloss mich sofort danach dann aber weinend und völlig fertig auf der Toilette ein. Das tiefe Gefühl der Wertlosigkeit werde ich nie vergessen. Es hat mir diesen Tag zerstört, der doch zu den schönsten im Leben zählen sollte.
Es war eine ähnliche Situation wie damals in der Grundschule, nur noch viel mächtiger. Ich fühlte mich bei dieser Art von „Auffallen“ aufgrund der Erfahrungen von klein auf schon reflexartig gedemütigt, auch wenn meine Mutter gar nicht anwesend war. So tief hatten mich das alles geprägt.
Heute weiß ich: die Kindheit mit meiner Mutter hat mich traumatisiert. Denn ich war ihrer verzerrten Selbst- und Fremdwahrnehmung und ihrem ver-rückten Verhalten allein ausgesetzt und bekam keine Hilfe von außen. Ich habe von ihr gelernt, dass so die Welt funktioniert.
Heute weiß ich, dass Kinder grundsätzlich ihre Eltern lieben. Sie wollen ihnen um jeden Preis gefallen bzw. wissen instinktiv, welches Verhalten von ihnen gewünscht wird. In meinem Fall hieß das „nach außen angepasst sein und alle Lebendigkeit unterdrücken“, denn diese Lebendigkeit, alles was mich ausmacht, war falsch und gefährlich für meine Mutter. Also wieder „nur nicht auffallen“.
All das macht keinen Sinn, oder? Aber für meine Mutter und damit auch für mich war es todernst.
Einige der Folgen werden wohl nie ganz weggehen. Ich kann nur sehr schlecht auf andere Menschen zugehen bzw. bin ich im Kontakt zu Menschen grundsätzlich verängstigt und gestresst. Ich nehme mich selbst kaum wahr und suche immer danach, was die anderen von mir erwarten. Unbewusst bin ich noch immer überzeugt davon, bei allen anderen unerwünscht zu sein. Das ist ein sehr übermächtiges Gefühl, gegen dass ich immer wieder neu ankämpfen muss. Und unter dem ich sehr leide, denn es macht mir ein authentisches In-Beziehung-Treten allzuoft unmöglich. Ich versuche Kontakte oft zu vermeiden. Aber gerade der Austausch mit anderen macht das Leben ja aus und überhaupt erst lebenswert. Im oberflächlichen Kontakt komme ich zwar ganz gut zurecht. Das heißt, wenn es klare Regeln dafür gibt, wie man sich verhält (ich arbeite in meinem Job als Sekretärin tatsächlich sehr gut nach den Regeln der anderen). Sobald der Umgang aber lockerer (Small Talk) und persönlicher (enge Beziehungen) wird, bekomme ich große Schwierigkeiten. Ich leide dabei sowohl darunter, reflexmäßig von anderen Menschen wieder so eine Behandlung wie die von meiner Mutter zu erwarten (= Trauma), als auch darunter, nicht wirklich erklären zu können was da in mir passiert, da es eben so wenig Sinn macht und aus der ver-rückten Welt meiner psychisch kranken Mutter stammt.
Ansonsten fühle ich mich allgemein in der Welt nicht sicher und immer ein bißchen fremd.
Das Gute ist, dass mir das alles sehr bewusst ist. Und so bin ich bisher trotzdem gut im Leben zurechtgekommen. Ich habe einen guten Job, bin glücklich verheiratet und habe wenige, aber liebe Freunde. Und in letzter Zeit kann ich auch viel besser mit den Resten meiner Vergangenheit leben. Ich akzeptiere mich so wie ich bin und gebe gerade innerhalb der Therapie meiner Mutter all die Probleme zurück, die sie auf mir abgeladen hat. Und das funktioniert! Ich bin für die Zukunft zuversichtlich. Denn ich habe es überlebt und fühle mich dadurch in mancherlei Hinsicht auch stärker.
Das Erlebte hier und in anderer Form niedergeschrieben und mit meiner Therapeutin, meinem tollen Mann und in der Selbsthilfegruppe besprochen zu haben, die Gabriele Apel im Rahmen von AURYN für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern anbietet, hat mir sehr geholfen, mich endlich Stück für Stück aus der Sprachlosigkeit zu befreien und dem ganzen seinen Platz zuzuweisen (nämlich in der Vergangenheit und bei meiner Mutter, nicht bei mir). Ich bin seit über 4 Jahren erfolgreich in Therapie und habe zum Glück gute Strategien entwickelt, um damit umzugehen. Offene Kommunikation und Akzeptanz dessen, wie mich meine traumatische Kindheit noch heute prägt, ist dabei ganz wichtig. Und möglichst viel Wissen über psychische Erkrankungen und was sie mit den Menschen machen.
Vielleicht ist es zum Schluss noch wichtig darauf einzugehen, was mir sonst noch geholfen hat, diese Kindheit zu überleben. Da war zum einen das Internet, wo ich Antworten auf viele Fragen fand und auf angstfreie Weise Kontakte leben konnte. Diese waren zwar anonym und eben nur virtuell, aber das war für mich besser als ganz allein zu sein. Viel Kraft habe ich außerdem aus Musik geschöpft. Mit ihr hatte ich etwas, worin ich vollkommen aufgehen konnte. Sie gab mir zumindest innerlich eine Stimme und ich fand in ihr Inspiration, Freiheit und Kreativität, aber auch Struktur und Harmonie. Alles Dinge, die mir zuhause komplett gefehlt haben.
Und auch die Arbeit für AURYN hat mir geholfen einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Ich kann dazu beitragen, dass es anderen Kindern besser ergeht als mir. Und so schwer ist das auch nicht — bei mir hätte es schon gereicht, wenn mir jemand erklärt, dass meine Mutter krank ist und nicht ich falsch.
Anne Meister